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Moving other people, deeply - Anmerkungen zum Werk des Fotografen Louis Stettner von Hans-Michael Koetzle
Was für ein Leben – zwischen Fotogr afie und bildender Kunst, Plastik und Tafelmalerei, Frankreich und Amerika. Ein Leben zwischen Ländern und Kulturen, Sprachen und Befindlichkeiten. Ni cht dass sich Louis Stettner nicht hätte entscheiden können. Aber er brauch t wohl dieses Oszillieren zwischen den Kontinenten, den Städten und Diszipl inen, um immer wieder neu den großen Fragen des Lebens nachstellen zu könne n. »Being a photographer«, hat er einmal gesagt, »means perpetual discovery .« 1922 in Brooklyn geboren, gestorben 2016, hat Stettner praktisch das ges amte 20. Jahrhundert durchmessen. Scheu und wortkarg, sagt er, sei er in ju ngen Jahren gewesen. Was den 14- oder 15-jährigen nicht davon abhalten konn te, sich einen Schlips umzubinden und sich im Metropolitan Museum die Arbei ten großer Kamerameister vorlegen zu lassen. Noch heute, sagte Stettner, hö re er das Rumpeln und Ächzen des Archivwagens mit neuen, ungeahnten Bildern . Der jugendliche Stettner machte Bekanntschaft mit den Achttausendern der Fotografie und war überwältigt von einem Kosmos, dem eher ausnahmsweise das Attribut »Kunst« zugesprochen wird.
Ein Fotograf sei »nichts«, hatte Max Horkheimer einst die junge Gisèle Freund wissen lassen. In diesem Klim a der Ignoranz, des Fehlens von Strukturen und einer wie immer gearteten Or ientierung entschied sich Stettner für die Fotografie – einen Beruf, der in den Augen vieler keiner ist. 13-jährig hatte er vom Vater eine erste Kamer a bekommen. 14-jährig eine erste passable Aufnahme gemacht. Nun stürzte er sich ins Ungewisse – das immerhin mit Verve. Im New York der Zeit um 1940 l ernte er Alfred Stieglitz kennen, traf er Paul Strand, begegnete er Edward Steichen, schloß er Freundschaft mit Lewis Hine. Das liest sich wie ein Bes uch im Pantheon der Fotografie. Doch damit nicht genug. Stettner besuchte K urse bei Sid Grossman, absolvierte einen Workshop bei Alexey Brodovitch, pf legte Umgang mit Lisette Model, deren Arbeiten er ebenso schätzte wie die v on Weegee oder Diane Arbus. Letztlich waren es diese beiden Pole, die Stett ner prägten und zwischen denen die eigene Kamerakunst vermittelt: Zum einen der linke Humanismus der von Grossman initiierten Photo League, zum andere n der am Formalen interessierte Ansatz eines Brodovitch.»Form cannot really exist without content«, bringt es Stettner auf den Punkt. Umgekehrt ist In halt ohne ein Ringen um die Form zumindest keine Kunst. In Stettners Werk g elangen beide Aspekte auf überzeugende Weise zur Deckung: Das tief empfunde ne Interesse am Menschen und ein wacher, bisweilen kühner, an der visuellen Überraschung interessierter, surrealistisch inspirierter Blick. Das gilt f ür sein in New York entstandenes Œuvre ebenso wie für seine Auseinandersetz ung mit Paris. 1947 war Stettner, ausgerüstet mit einer »GI-Bill«, nach Par is gekommen.
Fünf Jahre wird er bleiben. Fünf Jahre, in denen er Beka nntschaft machte mit einer noch immer von den Entbehrungen des Krieges und der Besatzung gezeichneten, zugleich in Sachen Kunst höchst lebendigen Metr opole. Jetzt waren es Namen wie Doisneau, Boubat, Cartier-Bresson, die zu F reunden wurden und ihn in seinem Weg bestätigten. Brassaï nicht zu vergesse n, der nicht nur einen wunderbaren, einfühlsamen Text zu Stettners erstem B uch bzw. Mappenwerk – »10 Photographs« (1949) – begesteuert hat. Er war auc h Vorbild, Wegweiser, väterlicher Freund: »He was my master.« Nicht nur sei Paris eine große Inspiration gewesen, sagte Stettner, auch hätten ihm die Leute Gewissheit gegeben, »that I was doing something important.« Mode, Wer bung, Journalismus: die Fotografie kann vieles sein, Auftrag und Selbstauft rag.
Früh positionierte sich Stettner als unabhängiger Autor, als Str eet photographer, der sich wachen Auges den Offenbarungen des Alltags stell t. Paris wird, wie er sagt, sein Outdoor-Studio und »la vie quotidienne« zu seinem großen Thema. In Frankreich war dies die hohe Zeit einer so genannt en »Photographie humaniste«. Auch bei Stettner steht der Mensch, der kleine Mann im Mittelpunkt. Aber seine Bilder sind weniger anekdotisch, weniger o ffensichtlich, weniger an Geschichten als an Atmosphäre interessiert. Stett ner suchte nicht Antworten, sondern stellte Fragen. Seine Bilder irritieren , präsentieren sich nicht selten als Geheimnis: Mysterien in Schwarzweiß, g estützt durch eine Lust am Experiment, die sich in mutigen Anschnitten, Uns chärfen, Spiegelungen, in Dynamik, in Bewegung äußert oder einer Leere, die an Atget erinnert. In Paris, im Rahmen des legendären »Salon des Indépenda nts«, hatte Stettner seine erste Ausstellung. In Paris lernte er junge Schw eden wie Tore Johnson, Hans Hammerskiöld oder Rune Hassner kennen. Oder den Deutschen Otto Steinert, der Stettner für die wichtige, 1951 in Saarbrücke n gezeigte Gruppenschau »subjektive fotografie« gewann. Als Vertreter diese r Richtung hatte er sich allerdings nie gefühlt. Ohnehin hasste er Etiketti erungen. »Any good picture is subjective«, betonte Stettner in Anlehnung an Brassaï, lachte und fügte hinzu: »A good photograph is a miracle. And the miracle still happens.« New York und Paris waren der Nährboden für den für die Wunder des Lebens empfänglichen Louis Stettner. Seit 1990 lebte er wied er in Paris.
Malte, zeichnete, modellierte in seinem Studio in Saint- Ouen. Oder fotografierte im Jardin du Luxembourg, wo er und seine betagte R olleiflex selbst zum gefragten Objekt touristischer Kameras geworden waren: »Somehow they think I am the typical old Parisian.« Dazwischen reiste Stet tner immer wieder in die USA, meanderte durch New York, um seinen großen Fa rbzyklus voranzutreiben: »Manhattan Pastorale«. Im vierundneunzigsten Leben sjahr konnte der Wahl-Pariser Louis Stettner auf ein reiches Œuvre blicken, getränkt von Neugier und Staunen und einem nimmermüden Interesse am Sozial en. Dem technologischen Wandel stand er skeptisch gegenüber: »Just because something is new doesn’t make it better.« Und in dem sich stürmisch entwick elnden Fotomarkt sah er wenig mehr als ein großes Entertainment. »Flaubert said, what he destested most in art is something that’s clever«, zitierte S tettner den großen Realisten, der neben Walt Whitman zu seinen »favorite po ets«, seinen Lieblingsdichtern zählte. Stettners eigenes Werk ist alles and ere als clever, vielmehr gut gesehen, tief empfunden, ehrlich und voller Üb erraschungen. »Art doesn’t work by pleasing other people«, definierte er se lbst. »It’s by moving other people. Deeply.«
Hans-Michael Koetzle leb t als freier Schriftsteller, Fotohistoriker und Kurator in München.
L
ouis Stettner "Early Joys"
Ausstellung vom 31. Oktober bis zum 19. Dez
ember 2020.
Öffnungszeiten:
Eröffnung am Samstag, den 31. Oktobe
r von 19 - 21:30 Uhr.
Mittwoch bis Freitag 16 - 19 Uhr,
Samstag v
on 11 - 15 Uhr und nach Vereinbarung.
Besuch nur mit Mund- und Nasenma
ske.
Foto: Stettner, Louis (USA), Madison Avenue, New York, 1976
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